Einmal, zweimal, dreimal
Kurzgeschichte von Birgit Puck
„Ihr verdammten Pisser!“, schreit sie, „ihr elenden Spießer!“ Ihre Wangen sind von Wimperntusche verschmiert. Mit Druck presst sie ein nasses Taschentuch auf ihre schmerzende Schläfe. Sie schaut sich die Wunde im Spiegel an. Das Gesicht sieht leicht geschwollen aus. Ihre linke Augenbraue ist mit Blut verkrustet. Das stammt vom ausgerissenen Piercing. Das ist im Handgemenge von Polizei und Demonstranten passiert. Wütend tritt sie mehrmals gegen die Eisentür. „Ich verblute!“, und mit etwas leiserer Stimme, „holt endlich einen Arzt!“ Sie hält inne und lauscht. Vom Gang ist nichts zu hören. Nach ein paar Minuten wird die Tür von außen entriegelt.
Zwei Uniformierte betreten ihre Zelle. Eine Frau um die fünfzig und ein Mann etwa Ende zwanzig. Sie springt ein paar Schritte auf die Polizisten zu, die sofort Verteidigungspositionen annehmen. Sie lacht höhnisch: „Na, habt ihr Schiss, ihr Bullenärsche?“
„Vorsicht!“, mahnt die Polizistin, „Beamtenbeleidigung wird teuer.“
„Hab sowieso kein Geld. Scheiß ich also drauf.”
Die Polizistin verzieht keine Miene: „In zehn Minuten geht die Vernehmung los. Bis dahin also bitte keinen Ärger.“
„Ärger habe ich bereits genug. Kommt auf mehr oder weniger nicht mehr drauf an.“
Die Beamten verlassen die Zelle und schließen wieder ab. Sie spuckt auf den blank geputzten Linoleumboden. Dabei merkt sie, dass ihr Schneidezahn ziemlich locker sitzt. Super, denkt sie, zahnlos mit 26. Tränen steigen auf. Schnell wischt sie sich über die feuchten Augen. Sie legt sich auf die Pritsche und starrt an die Decke. Was hat sie nur falsch gemacht, dass ihr Leben bislang so kompliziert verlaufen ist. Immer verspürt sie den Drang, sich verteidigen zu müssen. Gegen wen eigentlich? Andere haben in ihrem Alter eine Familie. Und sie? Sie sitzt eingesperrt in einer Zelle und wartet auf ein Verhör.
Früher hat sie das Wort ‘warten’ immer mit einem positiven Ereignis verbunden. Sie wartete auf ihren Geburtstag, den Weihnachtsmann, die großen Schulferien. Da hat sich das Warten gelohnt. Und jetzt wartet sie darauf, dass man sie mit unangenehmen Fragen in eine Ecke drängt, in der sie nicht stehen will. Dabei ist ihr Register schon lang, verdammt lang: Körperverletzung, Hausfriedensbruch, Diebstahl, unerlaubter Waffenbesitz. Jeder hat eine zweite Chance, doch ihre zweite ist bereits verstrichen. Sie hat sie damals nicht genutzt. Jetzt ist sie vorbei.
Die Zelle kennt sie noch von den letzten beiden Jahren. Zweimal hat sie hier schon gesessen.
Das Aufschließen der Tür holt sie in die Gegenwart zurück.
„Frau Hermer, kommen Sie bitte mit!“, befiehlt die Polizistin von vorhin.
Sie steht langsam auf und geht gemächlich ans Waschbecken, zieht den Schleim kräftig durch den Rachen und spuckt ins Waschbecken. Die Polizistin nimmt energisch ihren Oberarm, zieht sie durch die Tür ins nächste Büro und schiebt sie vor einen Stuhl.
„Setzen Sie sich!“, sagt die Polizistin harsch.
„Wenn ich aber stehen will?“, fragt sie.
„Wir haben Zeit und können warten, bis unsere Interviewpartner uns um einen Stuhl anflehen“, antwortet die Polizistin sarkastisch.
„Ach, Interviewpartner nennt man das jetzt bei den Bullen? Von Partnerschaft kann hier wohl keine Rede sein. Seit Stunden werde ich in dieser erbärmlichen Zelle gegen meinen Willen festgehalten. Ich bin ein Häftling, der zur Folter geführt wird, und ihr habt noch euren Spaß dabei.”
Die Polizistin schweigt und stellt sich neben die Tür
Beharrlich steht sie weiterhin vor dem Stuhl. Die Tür öffnet sich und eine Frau Mitte vierzig tritt ein.
„Darf ich Platz nehmen, Frau Hermer?“, fragt die Mittvierzigerin.
Sie schaut sie misstrauisch an. „Mir doch egal.“
„Oh, ich habe mich noch gar nicht vorgestellt“, sagt die Frau in versöhnlicher Stimmlage, „ich heiße Sabine Martens, Psychologin.“
„Schön für Sie“, entgegnet sie und steckt demonstrativ den Finger in die Nase. Martens setzt sich hinter den Schreibtisch.
„Sie sind 26 Jahre alt“, beginnt Martens das Gespräch, „Sie stehen seit Jahren im Konflikt mit unseren Gesetzen.“
„Scheiß Gesetz!“, platzt es aus ihr heraus.
„Sie sollten sich schon etwas kooperativer zeigen“, sagt Martens ernst.
„Kooperation“, sie grinst, „das war doch mal ‘ne Genossenschaft, die ihren Genossen beste Preise für gute Lebensmittel bieten wollte. Hat nicht funktioniert, weil zu viele Egoisten die Sahne abgeschöpft haben. Diese Arschficker sind überall. Also erzählen Sie mir bitte nichts von Ko-op! Die gibt’s nämlich nicht auf diesem Erdball. Von mir hören Sie bestimmt keine Namen. Ich hab Amnesie. Kann mich an niemanden erinnern. Doch, da fällt mir einer ein: Angela Merkel. Die war dabei! Das ist ‘ne Hyperreaktionäre“
„Was soll das mit der Kanzlerin?“, Martens Stimme klingt gereizt.
„Kanzlerin? Habe ich da richtig gehört? In diesem Land regierte mal eine Frau? So viel Emanzipation hätte ich dieser Gesellschaft überhaupt nicht zugetraut. Mein Respekt, mein Respekt!” Sie grinst und verschränkt die Arme vor der Brust. Sie steht immer noch.
Martens sucht den Augenkontakt, aber sie wendet sich ab.
„Denken Sie doch mal über ihr Leben nach. Wir können das auch gemeinsam tun“, sagt Martens.
„Mir gefällt es, so wie es ist“, entgegnet sie.
Martens schaut sie lange an
Dann erhebt sich die Psychologin und verlässt wortlos das Büro. Die Polizistin steht nach wie vor als Wache neben der Tür.
Vielleicht ist sie doch zu weit gegangen. Unschlüssig starrt sie auf den leeren Schreibtisch vor sich und setzt sich auf den Stuhl, den sie zuvor verweigert hat. Sie tastet nach ihrer schmerzenden Schläfe. Die Schwellung scheint dicker geworden zu sein. Mit der Zunge versucht sie, ihren Schneidezahn in den Kiefer zu drücken. Hoffentlich stabilisiert er sich wieder. Vielleicht stellt sie sich einfach reumütig und beendet das Spiel. Damit würden sich ihre Chancen erhöhen, mit Bewährung davonzukommen.
Noch eine letzte Chance
Sie weiß, es wird ihr schwer fallen, Reue zu zeigen. Sie empfindet keine Reue. In ihr ist so eine unendliche Wut, die ständig aus ihr herausbricht. Nicht bewusst gespielt, sie ist einfach da. Dabei ist sie ein sehr ruhiges, friedliches Kind gewesen, unauffällig in der Schule. Irgendwann kam die Wut und ist nie wieder weggegangen. Ihr Leben verlief von da an nicht mehr gradlinig, zwei angefangene Studiengänge, Gelegenheitsjobs, Arbeitslosengeld, eine Wohnung in einem Bauwagen. Besser als keine, hat sie sich gesagt und nun wohnt sie seit Jahren im Provisorium. Mal hier, mal dort. Wo halt gerade ein Zimmer frei ist. Ihre Beziehungen sind kurz gewesen, haben oft im Streit ihr Ende gefunden. Die Demos haben ihr ein wenig geholfen, die Wut loszuwerden. Manchmal ist sie extra Hunderte von Kilometern getrampt, um dabei zu sein, wenn die Steine fliegen. Manchmal gibt es Augenblicke, da will sie das kleine Schulmädchen von damals sein. Wohlbehütet in ihrer Familie, zu der sie keinen Kontakt mehr hat.
Sie steht auf und geht ans Fenster, blickt durch die Gitterstäbe in den trostlosen Innenhof. „Wünschen Sie sich manchmal auch, eine andere zu sein?“, fragt sie die Polizistin, die eben noch neben der Tür stand. Als sie keine Antwort erhält, dreht sie sich um.
Sie ist allein im Büro. Sie hat nicht bemerkt, dass die Polizistin den Raum verlassen hat. Vorsichtig drückt sie die Türklinke runter. Zu ihrer Überraschung ist die Tür offen. Auf dem Gang ist niemand zu sehen. Sie schleicht über den Flur bis zum Fahrstuhl, entscheidet sich dann aber für die Treppe. Das erscheint ihr in diesem Moment sicherer.
Drei Stockwerke und den bewachten Eingang muss sie überwinden. Sie spürt wie ihre Hände feucht werden. Im Treppenhaus wird eine Tür geöffnet, sie bleibt wie erstarrt stehen. Die Schritte bewegen sich nach unten. Sie wartet bis die Person, das Treppenhaus verlässt und springt die Stufen nach unten. Sie versucht mit den Fingern ihre Haare zu richten, zieht ihren Pullover zurecht und setzt ein fröhliches Gesicht auf. Dann öffnet sie die Treppenhaustür im Erdgeschoss.
Sie kommt direkt neben dem Fahrstuhl raus. Erhobenem Hauptes geht sie auf die bewachte Eingangsloge zu.
„Wollen Sie raus?“, fragt der Beamte, der dort sitzt. Er scheint sie nicht zu kennen. Es hat noch niemand ihre Flucht bemerkt. Kein Alarm wird ausgelöst. Sie nickt stumm und lächelt ihn an. Er betätigt den Summer. Sie drückt gegen die Eingangstür und versucht normalen Schrittes über den Hof zu gehen. Bloß nicht rennen, da würde sie sofort auffallen. Sie könnte jetzt gleich zu Tanja gehen. Oder sie packt ihre Sachen und kehrt der Stadt den Rücken. Sie weiß noch nicht, was sie tun wird. Sie verlässt unbemerkt das Gebäude, denkt sie.
Am Fenster im dritten Stock stehen Martens und die Polizistin. Die beiden beobachten sie, wie sie zügig auf die Toreinfahrt zugeht.
„Wir werden sie wohl wiedersehen“, meint die Polizistin.
„Ich glaube nicht. Das ist ihre dritte Chance“, sagt Martens.
„Und die letzte“, sagt die Polizistin. Martens nickt.
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Kurzgeschichte für den Deutschunterricht
In Deutsch eine Kurzgeschichte interpretieren – gar nicht so einfach. Das weiß man als Lehrerin, Lehrer nur zu gut. Diese Geschichte lässt allerlei Spielraum zu. Und falls ihr Fragen dazu habt, schreibt mir gern eine Nachricht.