Baggerseegeschichte

Mittwoch am See

Es war ein ganz normaler Mittwoch und trotzdem war dieser Mittwoch anders als ein gewöhnlicher Mittwoch. Kein Online-Meeting, keine Analyse von Statistiken, keine Telefonate.
Er sondern saß einfach nur da, an diesem kleinen Badesee, umgeben von Schatten spendenden Nadelbäumen.

Mit angewinkelten Beinen schaute er aufs Wasser. Ab und zu wanderten seine Augen hinüber zu den kreischend planschenden Kindern. Das Schreien störte ihn nicht, im Gegenteil, der eine oder andere kindliche Ausruf amüsierte ihn und ließ ein Lächeln über sein eher ernstes Gesicht streifen. Er überlegte, ob Schulferien waren. Weshalb sollten sonst so viele Kinder an einem Vormittag mitten in der Woche Zeit haben, sich ausgelassen mit Wasser zu bespritzen?

Wie immer war er an diesem Mittwochmorgen kurz nach acht die Autobahn Richtung Norden gefahren. Wie immer zu schnell. Dachte an seine Aufzeichnungen, den bevorstehenden Geschäftsabschluss. Doch anstatt an den letzten Formulierungen für den Abschluss zu feilen, überkam ihn das Bedürfnis, aus den Bahnen zu brechen. Einfach mal etwas tun, was nicht geplant war, was niemand erwartete.
So fuhr er an der Autobahnausfahrt vorbei, an der nächsten und auch an der übernächsten.
Während der Fahrt verdichtete sich die Erinnerung an diesen Badesee, wo er als Junge oft gebadet hatte.

Jetzt saß er hier, atmete den Holzgeruch des Nadelwaldes ein. Es roch wie früher.
Das Wasser trug immer noch seine zart grünlichen Wellen ans Ufer. Den schmalen Badestrand beherrschten Luftmatratzen, Sonnenschirme und Badehandtücher. Ein kleiner Steg führte auf den See hinaus. Ohne Jackett mit hoch gekrempelten Ärmeln beobachtete er sitzend das sommerliche Treiben. Dabei ließ er seiner Vorstellungskraft freien Lauf, formte Tiere und wilde Gestalten aus den vereinzelt auftretenden Schönwetterwölkchen, bis er auf einmal eine helle kindliche Stimme vernahm: “Ich hab‘ dich was gefragt.”
Er drehte sich um. “Was hast du gefragt?”

Hinter ihm stand ein Mädchen. Es mochte sechs, vielleicht auch sieben Jahre alt sein. Ihre nassen Haare waren rechts und links zu zwei Zöpfen geflochten, eine sommersprossige Stupsnase und ein aufgewecktes braunes Augenpaar musterte ihn ungeniert. In der rechten Hand hielt sie einen aufgeblasenen gelben Schwimmreifen.
Er zeigte auf den Reifen: “Toller Reifen. So schön gelb.”
Stolz kräuselte sie ihre Nase und erklärte: “Der ist zum Tauchen. Da tauche ich immer von unten rein. Guck mal, so!“
Sie demonstrierte, wie sie im Wasser von unten in den Ring tauchte. Dabei prustete sie, als wenn sie gerade Seewasser verschluckt hatte. Nach dieser Vorstellung hockte sie sich neben ihn. “Sag mal, warum bist du so schick?”
Er lächelte verschwörerisch: “Ich habe einfach die Arbeit geschwänzt, bin nicht ins Büro gegangen. Aber du sagst es niemandem. Versprochen?”
“Nö. Kannst dich drauf verlassen. Ich sag nichts. Bist du das erste Mal hier?”
“Nein. Als Kind war ich oft hier. Ich musste den See mal wiedersehen. Manchmal muss man alte Freunde wiedertreffen, ich wollte heute einfach wissen, ob der See noch genauso aussieht wie zu meiner Kindheit.”
“Sieht er so aus?”, fragte die Kleine neugierig.
“Ja, fast. Nur die Bäume sind höher.”
Sie zeigte auf seine Hose. „Ist schon ganz grün hier. Geht nie wieder weg, sagt meine Mama.“
„Wahrscheinlich hast du Recht. Wie nennt dich denn deine Mama?“
„Sarah.“
„Ein schöner Name.“
„Hhm.“
Sarah veranstaltete wieder eine imaginäre Tauchübung, hielt beim Auftauchen plötzlich inne und fragte unvermittelt: „Wie groß ist denn das Universum? Haben da überhaupt alle Menschen Platz? Alle, die mal gestorben sind. Auch die schon tausend Jahre tot sind?“

Ein normaler Mittwoch, der so völlig anders war als jeder andere Mittwoch. Ein Mittwoch, der ihn aufforderte, die Natur auf sich wirken zu lassen. Doch nicht nur das. Da machte ihm diese kleine Person klar, wie unbedeutend Geschäftsabschlüsse sein können. Wie unbedeutend, sieht man sich der Frage nach dem Universum ausgesetzt.
Er hob eine trockene Tannennadel auf und zeigte sie Sarah. „Stell dir vor, das ist ein Mensch.“
„Ein toter Mensch?“, unterbrach sie ihn.
„Meinetwegen auch ein toter. Alles, was um diese Nadel herum ist, vom Boden bis weit, weit über den Wolken, das ist das Universum. Da finden Tausende, ja sogar Millionen von diesen Tannennadeln Platz. So groß ist das unendliche Universum.“ Sarah nickte anerkennend. Diese Dimensionen schienen ihr einzuleuchten. Sie schob eine Tauchnummer ein. Wahrscheinlich war das ihre spezielle Art, ihre Gedanken zu verarbeiten, denn kaum war sie wieder aufgetaucht, sprudelte die nächste Frage hervor. „Was heißt denn unendlich?“
„Kennst du einen Berg?“, stellte er die Gegenfrage.
Angestrengt biss sie sich auf die Unterlippe und entblößte kurz darauf erfreut ihre Milchzahnlücken.
„Der Watzmann“, jubelte sie, „den Berg kenne ich. Da waren wir im letzten Winter.“
Er schien sichtlich erleichtert. Die Kleine hatte also eine Vorstellung von Bergen, die über eine stattliche Höhe verfügten.„Also“, begann er, „schließ die Augen und stell die den Watzmann vor.“
Sarah setzte sich ihm gegenüber ins Gras und kniff die Augen zusammen.
„Siehst du ihn?“, fragte er.
„Ja, mit viel Schnee.“
„Gut. Dieser Watzmann wird jedes Jahr im Frühjahr von einem kleinen Vogel besucht. Der Vogel pickt ein ganz, ganz kleines Steinchen heraus. Und wenn er über viele, viele Jahre immer wieder die Steinchen herausgepickt hat, ist der Watzmann eines Tages weg. Wenn der Watzmann nicht mehr da ist, dann ist eine Sekunde von der Unendlichkeit vergangen.“
„Oh, die Unendlichkeit dauert aber lange. Der Watzmann ist ziemlich groß, nicht wahr?“
„Ja.“
Sarah folgte seinem Blick und schaute in den Himmel. „Ganz schön viele Tiere da oben in den Wolken“, brach sie nach wenigen Minuten das Schweigen.
Er bestätigte ihre Aussage durch ein lang gedehntes „Hhmm“.
„Da siehst du, da ist eine richtige Igelfamilie“, bemerkte Sarah, „wir hatten auch mal einen Igel in unserem Garten. Der hieß Schröder, weil unser Nachbar so heißt. Der hat nämlich so eine Frisur wie ein Igel. Hattest du auch schon mal einen Igel?“
Er schüttelte den Kopf. Tiere, Garten, verschneite Wälder, Bilder der Erinnerung zogen an ihm vorbei.
Endlos weit hatte er sich von dieser Welt entfernt. Wolken studieren, mitten in der Woche, ihnen zuschauen, wie sie vom Igel zum Drachen, vom Drachen zum Elefanten und vom Elefanten zum Raubvogel sanft hinübergleiten, lag für ihn vergraben und eingemottet in der Vergangenheit seiner Kindheit.
„Wie viele Wolken gibt es am Himmel?“, riss ihn Sarah aus seinen Gedanken.
„Ziemlich viele.“
„Wie viele?“
„Bist du schon mal im Meer geschwommen?“
„Ja, das war gut, da waren richtig hohe Wellen!“, rief das Mädchen erfreut.
„Siehst du, da weißt du ja auch, dass das Meer aus vielen kleinen Wassertropfen besteht. Da sind natürlich viel mehr als in diesem Badesee. So wie das Meer aus einer sehr großen Zahl von Tropfen besteht, so voll ist auch der Himmel mit Wolken. Wenn man fliegt, kann man die Wolken von oben sehen.“
„Ich bin noch nie geflogen. Ich kenne Flugzeuge aus dem Fernsehen. Da habe ich welche gesehen.“
„Sarah! Sarah, komm jetzt bitte her! Wir müssen los. Oma wartet mit Kuchen auf uns!“, erklang aus der Ferne eine Stimme, die wahrscheinlich zu Sarahs Mutter gehörte.
Das Mädchen griff nach ihrem Schwimmreifen und stand auf.
„Kommst du morgen wieder?“, fragte sie.
„Ich glaub‘ nicht“, meinte er.
„Warum nicht?“
„Ich muss ins Büro, arbeiten.“
„Schade.“ Sie betrachtete skeptisch seine Hose. „Dann musst du morgen eine saubere Hose anziehen. So kannst du nicht zur Arbeit.“
Er lachte. „Wahrscheinlich nicht.“
„Tschüss“, sagte das Mädchen und winkte ihm beim Fortgehen zu.
Auch er erhob sich, klopfte die Tannennadeln flüchtig von seinen Hosenbeinen und schlug den weichen Waldweg Richtung Parkplatz ein. Er stieg ins Auto, holte sein Handy aus dem Handschuhfach und rief in der Firma an. „Ich bin um 15 Uhr da“, teilte er mit. Innerhalb der nächsten Stunde drängte sein gewohnter Alltag zurück, verscheuchte die erlebten Augenblicke.

Die Wochen vergingen. Verblasst und aufgelöst war das Bild vom See, vom Geruch des Nadelwaldes und von der kleinen Sarah mit ihrem gelben Schwimmreifen. Erst als er eines Morgens die Zeitung las, traf ihn die Erinnerung, schmerzhaft und unbarmherzig. Nicht die Wirtschaftsseiten hielten ihn fest, sondern der kurze Bericht über ein Mädchen, das genau dort ertrunken war, wo sich die Wolken zur Igelfamilie erhoben hatten und der Watzmann die Unendlichkeit erklärte.

Die Kleine konnte nicht schwimmen, stand dort. Neben dem Artikel war ein Foto des Mädchens abgebildet. Sie lächelte verschmitzt mit großen braunen Kulleraugen und kräuselte ihre Stupsnase.

Text: Birgit Puck