Der Schauspieler ist in der Stadt
Sie hatte es früh morgens in der Zeitung gelesen. Gleich auf der Titelseite. Sie legte die Zeitung beiseite und ordnete leise vor sich hinsummend die neuesten Ausgaben der Zeitschriften ins Regal. Das machte sie jeden Tag. Außer am Sonntag. Sonntags hatte ihr Kiosk geschlossen. Aber heute war ein ganz normaler Dienstag.
Sie überflog den Artikel zunächst. Nahm nur einzelne Worte wahr. Sie las ihn wie jede andere Meldung auch. Flüchtig, unaufmerksam und zerstreut. Doch irgendetwas bewog sie, den Artikel ein zweites Mal zu lesen. Diesmal jedes einzelne Wort. Es gastierte mal wieder ein Schauspieler in der Stadt, nicht der Günstling der Theaterkritiker, mehr ein Liebling des Publikums.
Das war nichts Besonderes. Dafür war die Stadt bekannt. Immer wieder neue Gastspiele. Jedes Jahr kamen sie, die Großen, die groß gemacht worden waren und die Kleinen, die gern groß wären. Jede Woche waren die Zeitungen voll mit Theaterkritiken, mit Ankündigungen, Interviews und all dem, was in die Rubrik Kultur passte oder passen sollte. Ihr war die Kultur egal. Das war so weit weg von ihr. Eine andere Welt. Die ihre bestand aus ihrem Kiosk. Es war schon ein bisschen mehr als ein gewöhnlicher Kiosk. Immerhin gab es einen Kartenlesegerät, eine digitale Kasse, eine Ladentür, die beim Öffnen einen melodischen Klingelton auslöste und eine große Kühltruhe mit all jenen Dingen, die bei ihr gekauft wurden, weil die Menschen keine Lust hatten, den nächsten Supermarkt aufzusuchen, um sich dort in die Schlange vor der Kassen einzureihen.
Die Anwohner mochten sie. Selbst, wenn alles etwas mehr kostete, spielte der Preis nicht die entscheidende Rolle. Ihr Kiosk hatte einen zusätzlichen Wert. Hier traf man auf ihr offenes Ohr, begegnete ihrer ungebrochenen Freundlichkeit auch dann, wenn es ihr mal nicht so gut ging. Hier traf man Leute aus der Nachbarschaft, sprach miteinander.
Elf Jahre betrieb sie ihr Geschäft nun schon. Es brachte nicht viel, jedoch genug zum Leben. Aber nur, weil sie keine hohen Ansprüche stellte.
Ihre Scheidung lag bereits viele Jahre zurück, dreizehn oder vierzehn Jahre, so genau wusste sie das immer nicht. War für sie inzwischen auch unbedeutend. Ein neuer Mann oder einfach nur eine sanfte Liebelei war ihr seitdem nicht begegnet. Ob sie die Zweisamkeit vermisste, konnte sie nicht einmal so genau sagen. Schließlich stand sie jeden Tag rund vierzehn Stunden in ihrem Kiosk. Da blieb für Gefühle nicht mehr die Kraft. Kraft war wahrscheinlich das falsche Wort. Für sie bestand einfach keine Notwendigkeit einer Partnerschaft. Abends fiel sie erschöpft ins Bett und schlief innerhalb von wenigen Sekunden ein.
Und plötzlich sollte alles anders sein, weil er kam, der Schauspieler. Mit Hut und Trenchcoat, nicht sonderlich groß, nicht jung, eher Mitte fünfzig. Früher hatte sie ihn oft als Moderator in einer Musikshow gesehen. Er musste also mindestens Mitte fünfzig sein, vielleicht auch etwas älter. Irgendwann war er von der Fernsehbildfläche verschwunden. Theater war seine neue Welt, hieß es. Zunächst begeisterte er das Publikum der Provinztheater. Dann schaffte er es schließlich bis auf die großen Bühnen.
Nur wenige Tage nach der Zeitungsmeldung, dass er in ihrer Stadt gastierte, stand dieser Schauspieler in ihrem kleinen Kiosk. Bernhard von Starnow, ein Herr mittleren Alters, der zu später Stunde Lust auf Schokolade verspürte.
Sein knapper Abendgruß, der latent nasal mit einem Räuspern bei ihr ankam, wurde freundlich von ihr erwidert. Er fragte er nach Vollmilchschokolade. Sie präsentierte ihm verschiedene Varianten an Edelschokoladen, auf die sie besonders stolz war, weil es ihr in vielen Gesprächen gelungen war, deren Hersteller davon zu überzeugen, ihren kleinen Kiosk zu beliefern. Als sie ihm die Preise nannte, wiederholte er ungläubig jeden Preis. Er konnte nicht nachvollziehen, warum ihre Schokolade nicht für ein, zwei Euros zu haben war.
Sachlich erklärte sie ihm die Besonderheiten ihrer Schokoladen. Ihre Worte kamen bei ihm nicht an, das merkte sie. Er verstand sie nicht. Aber, was sie verstand, waren seine Augen, die zu brennen schienen. Dunkelbraune Flammen, die die Welt erobern wollten. Sie fühlte sich von seinem Blick berührt und merkte, wie ihr das Gespräch zu entgleiten drohte. Nach langem Hin und Her entschied er sich mürrisch für eine ihrer teuersten Schokoladen, zahlte und ging. Als er fort war, starrte sie noch lange auf die Ladentür.
An diesem Abend holte sie aus dem Keller einen zehn Jahre alten Barolo hervor. Ein Wein für einen besonderen Tag. Heute war ein solcher. Diese wenigen Minuten mit ihm hatten sie aus der Routine gebracht. Fast die ganze Flasche leerte sie, während im Hintergrund Schuberts Lieder erklangen.
Zu ungewohnt später Stunde ging sie an diesem Abend zu Bett. Entgegen ihrer sonstigen Gewohnheit schlief sie nicht gleich ein, nachdem sie das Licht gelöscht hatte. Sie dachte nach. Über ihren Alltag, über ihren Sonntag, den sie meist allein verbrachte. Sie dachte nach über Weihnachten, das sie schon seit Jahren nicht mehr bei der Familie ihrer Schwester verbrachte. Familienidylle war nicht ihr Thema. Lieber war sie allein in ihrem Wohnzimmer, bei Kerzenschein, mit ihren geliebten Schubertliedern. Sie dachte nach und wurde traurig. So allein wie sie war, so allein würde sie eines Tages diese Welt verlassen. Vielleicht würde einer ihrer Kunden sich wundern, wenn der Kiosk verschlossen blieb. Doch bereits nach kurzer Zeit hätte man sie vergessen. Unwillkürlich bemerkte sie, wie sich Tränen in ihren Augen sammelten.
Was war mit ihr nur geschehen? Ein Schauspieler war in die Stadt gekommen. Ein Schauspieler war in die Stadt gekommen und hatte bei ihr eine Schokolade gekauft, die er viel zu teuer fand. Die Nacht war weit fortgeschritten, bis sie einschlief.
Der nächste Tag war schon fast wieder der alte. Und umso mehr Tage seit ihrer Begegnung mit dem Schauspieler vergingen, desto mehr hatte der Alltag sie wieder. Es war alles wie immer, bis er wieder ihren kleinen Kiosk betrat. Wieder mit Hut, wieder mit Trenchcoat, wieder diese nasale Stimme. Diesmal verlangte er nach einem Rotwein. Neben den Billigweinen hatte sie auch zwei gute für Leute, die etwas von Wein verstanden. Ob er dazugehörte, vermochte sie nicht einzuschätzen, präsentierte jedoch stolz einen ihrer spanischen Reserva.
Und diesen edlen Wein, sagte er lächelnd, trinkt man am besten in Gesellschaft einer schönen Frau?
Sie stockte, schaute ihn irritiert an und fühlte wie ihr die Routine im Umgang mit Kunden heimlich davonschlich. Wie meinen sie das? fragte sie.
So, wie ich es sagte, näselte er zurück und grinste fast provozierend.
Sie sah sich verlegen um und war dankbar, dass kein anderer Kunde im Laden war.
Sie wünschte, er wollte sie mit seiner Frage direkt ansprechen, aber im selben Moment wusste sie, es war nur so dahingesagt. Dahingesprochen wie viele andere Worte, die sich im Raum verlieren, ohne dass sie jemand findet.
Seine dunklen Augen musterten sie kurz. Dann kramte er umständlich sein Portemonnaie hervor, zahlte und ging.
In dieser Nacht hörte sie nicht nur Schubert, sondern auch ein wenig Mozart und Chopin. Sie schlief erst ein, als der Morgen schon dämmerte. Müde und ermattet ging sie an diesem Tag in ihren Kiosk, tat nur das Nötigste und schloss am Abend pünktlich ab.
Die Tage verstrichen und er kam nicht wieder. Sie überlegte, ob sie ins Theater gehen sollte, um ihn zu sehen. Doch was sollte sie dort? Bislang war sie in ihrem Leben zweimal im Theater gewesen und das war noch zu ihrer Schulzeit. Aber dann bestellte sie kurzentschlossen für den Abend eine Theaterkarte für seine Vorstellung.
Hinten in der letzten Reihe genoss sie jedes seiner Worte, sog sie auf und ließ sich entführen in die gespielte Welt, fernab von ihrer eigenen.
Nach der Vorstellung war sie recht beschwingt und holte sich am Tresen ein Glas Sekt. Während sie trank, beobachtete sie den Besucherstrom, der von der Garderobe Richtung Ausgang strebte. Das Theaterfoyer leerte sich. Sie stand allein mit dem Sekt und in Gedanken versunken an einem der Stehtische.
Das Servicepersonal wischte bereits den Tresen und sie spürte, dass ihre Anwesenheit störte. Da riss sie die bekannte nasale Stimme sie aus ihren Gedanken.
Zum Wein fehlte mir die schöne Frau, beim Sekt habe ich sie gefunden, ertönte es hinter ihr.
Ich kotz gleich, entfuhr es ihr.
Er lachte herzlich. Ja, Sie haben Recht, das war keine Poesie, das war einfach nur platt und blöd. Jetzt musste auch sie lachen. Ein befreiendes Lachen, das die Spannung nahm, die sie bei ihren bisherigen Begegnungen empfunden hatte.
Sie atmete tief durch und sagte: Sie sollten gehen, auf sie warten Frau und Kind, bestimmt schon bald das nächste Theater, die nächste Rolle.
Meinen Sie? Und wenn mir nicht danach ist?
Diesmal lächelte sie, überlegen und wissend. Ja, ich meine es so, wie ich es gesagt habe.
Sie stellte ihr leeres Sektglas auf den Tresen, ging auf ihn zu und küsste ihn direkt auf den Mund.
Ich wünsche Ihnen ein schönes Leben, das meine ich Ernst, sagte sie und ging.
Als sie fort war, starrte er noch lange auf die Tür des Theaterfoyers, lange, sehr lange.
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Text und Foto: Birgit Puck