Das Wort zum Freitag

Kurzgeschichte von Birgit Puck

Sie hörte seine Stimme. Nur die Stimme, nicht seine Worte. Sie liebte das Dunkle in ihr. Instinktiv nickte sie an den richtigen Stellen, wenn er zu ihr sprach. Er sollte nur reden, Worte waren unbedeutend.

Immer freitags kam er zu ihr, wenn die anderen schon weg. waren, ins Wochenende, zu ihren Familien. Es war ein Ritual. Gegen vier klopfte er an ihre Bürotür. Er trat ein, bot ihr eine Zigarette an, die sie dankend ablehnte. In den letzten drei Jahren hatte er nicht bemerkt, dass sie nicht mehr rauchte.

Der Freitag war für sie der Höhepunkt der Woche. Sie vermisste ihn, wenn große Ferien waren und er mit der Familie in den Urlaub fuhr. Immer nach Italien. Jedes Jahr in denselben Ort. So wie sie jedes Jahr eine Woche nach Sylt fuhr. Immer in dieselbe Ferienwohnung. Man hatte so seine Gewohnheiten.

Wenn er in den Ferien fort war und sie die Freitagnachmittage allein in ihrem Büro verbrachte, dann wünschte sie sich manchmal, sie wäre seine Frau, es wären ihre Kinder und sie wäre an seiner Seite im sonnigen Italien.

Und dann kam dieser Freitag. Alles schien wie immer. Die meisten Kollegen waren schon weg. Sie schaute auf die Uhr: Kurz vor vier. Gleich musste er eintreten. Es wurde vier. Viertel nach vier. Halb fünf. Nichts passierte.

Sollte sie ins Wochenende gehen, ohne seine geliebte Stimme? Sie konnte unmöglich auf diese Stimme verzichten. Schnell räumte sie ihren Schreibtisch auf, fuhr sich mit den Fingern durch die Haare und ging entschlossen über den Flur auf seine Bürotür zu.

Er telefonierte. Sie lauschte. Sein tiefes Alles-klar signalisierte ihr, dass das Gespräch kurz vor dem Ende stand. Sie wartete auf den Moment der Stille. Dann klopfte sie zaghaft an seine Tür. Es erklang ein Ja-bitte. Sie öffnete die Tür einen Spalt und schaute in sein Büro.

Alles in Ordnung? fragte sie besorgt.

Er griff lächelnd in seine Hemdtasche, zog eine Zigarette aus der Packung, fingerte in der Hosentasche nach dem Feuerzeug.

Nehmen Sie Platz, forderte er sie freundlich auf.

Zaghaft setzte sie sich auf den Stuhl vor seinem Schreibtisch. Er bot ihr eine Zigarette an. Sie lehnte sie.

Ich dachte, es wäre etwas, eröffnete sie das Gespräch.

Wieso, was soll sein?

Sie räusperte sich und meinte, es sei schließlich schon fast fünf und normalerweise käme er auf eine Zigarette immer um vier.

Er musterte sie und schaute sie schweigend an. Ihr war unwohl. Hatte sie etwas Falsches gesagt oder ihn nur etwas irritiert?

Sabrina, sagte er, wie lange kennen wir uns jetzt?

Neun Jahre, antwortete sie.

Sehen Sie! Sie sollten doch wissen, dass ich an mir lieb gewonnenen Gewohnheiten festhalte.

Sie nickte und überlegte, ob sie aufstehen und ihm ein schönes Wochenende wünschen sollte. Doch er sprach weiter.

Genau, und weil das so ist, frage ich Sie, was haben Sie heute Abend vor?

Oh, nichts Besonderes, entgegnete sie.

Das trifft sich gut. Denn heute werden Sie etwas Besonderes vorhaben. Wir fahren gleich gemeinsam in die kleine Fischküche zum Hafen und Sie sind mein Gast.

Gibt es etwas zu feiern?, fragte sie vorsichtig.

Nein, es ist ein ganz normaler Freitagabend. Ein Abendessen nach Dienstschluss sozusagen. Sind sie dabei?

Wieder nickte sie.

Wenige Minuten später saßen sie in seinem Auto und fuhren Richtung Hafen. Sie sagte nichts. Sie wusste nichts, was sie sagen sollte. Nichts, was ihr in diesem ungewohnten Moment passend erschien. Also schwieg sie.

Auch er schwieg.

Am Ziel angekommen, öffnete er ihr die Wagentür und hielt ihr galant seinen Arm zum Einhaken entgegen. Ihr war nicht wohl bei dem Gedanken, Arm in Arm mit ihm das Lokal zu betreten, doch zurückweisen mochte sie seine höfliche Geste nicht. So hakte sie sich bei ihm unter. Der Kellner wies ihnen einen Tisch in einer Nische zu.

Er redete und redete, wie er es jeden Freitag tat. Nur diesmal nicht in ihrem Büro, sondern in diesem gemütlichen Hafenrestaurant.

Ohne sie zu fragen, wählte er den Wein aus, bestellte für sie Vorspeise und Hauptgang. Lediglich, sie mögen doch Fisch, Sabrina? richtete er das Wort an sie.

Sie ließ es geschehen.

Er sprach zu ihr und sie hörte zu, über moderne Technologien, über den Jugendmusikpreis, den sein Sohn gerade gewonnen hatte, über Sport, über Weine.

Sie horchte in das Dunkle seiner Stimme hinein. Sein Redefluss schien ungebrochen.

Er bestellte die zweite Flasche Wein.

Wollen Sie nach dieser Flasche noch fahren?, fragte sie vorsichtig.

Andreas, antwortete er ihr.

Sie wiederholte ihre Frage.

Er lachte sein dunkles Baritonlachen.

Andreas, bitte sag‘ Andreas zu mir.

Andreas, wiederholte sie seinen Vornamen. Der Wein war ihr zu Kopf gestiegen. Andreas, wollen Sie etwa nach zwei Flaschen Wein noch fahren?

Willst du, korrigierte er, nein, ich glaub nicht. Wir nehmen nachher ein Taxi.

Sie zuckte zusammen. Wir nehmen ein Taxi, hatte er gesagt, er sprach von wir.

Geh‘, dachte sie erschrocken, geh‘, am besten sofort. Sie sehnte sich nach dem Ritual des Freitags, seiner Feierabendzigarette in ihrem Büro. Diese eine Zigarette, manchmal auch zwei und danach ins Wochenende. Er in seins und sie in das ihre. Sie wollte sofort ihre Freitagnachmittagsstunde. Das gewohnte Wort zum Freitag.

Schmeckt es Ihnen, durchbrach der Kellner ihre Gedanken. Sie nickte freundlich, während Andreas das Essen in den höchsten Tönen lobte und im gleichen Atemzug das Dessert und wie selbstverständlich zwei Gläser Champagner bestellte.

Ich kann nicht mehr, sagte sie, ich habe schon zu viel getrunken.

Er griff nach ihrer Hand. Sie ließ es geschehen. Er küsste ihre Hand. Fast genoss sie es. Nun gab es kein Zurück mehr. Jeder wusste, wie dieser Abend enden sollte.

Natürlich in ihrer Wohnung ansteuern. Bei ihm Zuhause erwarteten ihn Frau und Kind.

Die Gedanken brausten ihr durch den Kopf.

Woran denkst du?, er sah sie forschend an.

Sein Lächeln verstärkte sein Grübchen auf der rechten Wangenseite. Das war ihr noch nie so deutlich aufgefallen. Es war nur auf einer Seite, jegliche Symmetrie fehlte. Ihr war ein wenig schwindelig, von der Frage und vom Wein.

Oh, nichts Wichtiges, sagte sie, ich habe nur gerade daran gedacht, was es doch für ein schöner Freitagabend sei.

Das ist doch etwas Wichtiges, an das du denkst. Schließlich ist es unser erster gemeinsamer Freitagabend.

Sie schaute verlegen. Er streichelte ihre Hand.

Der erste gemeinsame Freitagabend, die erste gemeinsame Nacht und wahrscheinlich auch die letzte, überlegte sie. So hatte sie sich das alles nicht vorgestellt.

Eigentlich hatte sie gar keine Vorstellungen gehabt, als sie diesem Essen zugestimmt hatte.

Für das kunstvoll angerichtete Dessert, das der Kellner in diesem Moment servierte, hatte sie keine Augen mehr.

Wie schaffst du das alles?, fragte er sie.

Sie verstand seine Frage nicht.

Ich meine, diesen langweiligen Job in einer Perfektion auszuführen, die keinen Anlass zur Kritik bietet, fuhr er fort.

Dieser Job, wie du es nennst, ist alles andere als langweilig. Wenn du deine Aufgabe mit Inhalt füllst, kann jede Aufgabe faszinierend und spannend sein.

Er nickte anerkennend.

Das entzerrt den Blick auf die Dinge des Alltags und gibt ihnen ihre Existenzberechtigung, ergänzte sie.

Das hast du sehr schön gesagt, sagte er und führte ihre Hand an seinen Mund. Er streifte mit den Lippen ihren Handrücken.

Die Zeit schritt voran. Im Lokal waren kaum noch Gäste. Der Kellner fragte sie, ob sie eine Kaffee oder einen Digestif wünschten. Er bestellte für sich eine Williams und sie nahm einen doppelten Espresso in der Hoffnung, dass ihre Gedanken wieder klarer wurden.

Inzwischen waren sie die letzten Gäste im Lokal. Er bat den Kellner um die Rechnung und ein Taxi zu rufen.

Ihr Herz pochte. Jetzt gab es kein Zurück mehr.

Er entschuldigte sich und ging zur Toilette. Sie fand, dass er ziemlich lange wegblieb.

Statt seiner trat nach einiger Zeit der Kellner an ihren Tisch.

Das soll ich Ihnen von Ihrem Begleiter überreichen, sagte er förmlich und gab ihr einen gefalteten Zettel.

Sie nahm ihn erstaunt entgegen.

Gefühle der Hoffnung und Erleichterung mischten sich beim Lesen der Zeilen.

Liebe Sabrina, stand dort. Seine Schrift schien etwas zittrig.

Ich schätze Sie als Person, ich finde, Sie sind eine attraktive Frau, die nicht nur ihren Job bis zur Perfektion beherrscht, sondern jemanden verdient, der ihr neben Anerkennung und Achtung auch seine Liebe zu hundert Prozent geben kann. Ich bin ihrem Reiz erlegen und werde es immer sein, weiß aber genau wie Sie, dass ich durch meine Familie eingebunden bin und dass ich meine Frau liebe. Ich möchte sie nicht enttäuschen. Darum bitte ich Sie, allein in das Taxi zu steigen, damit alles so bleibt, wie es ist. Der Freitagnachmittag wird uns immer gehören, uns allein. Ich hoffe, Sie haben Verständnis. Ihr Sie verehrender Andreas.

Sie las den Zettel mehrmals. Tränen der Erleichterung sammelten sich in ihren Augen. Er war zum formellen Sie zurückgekehrt. Kurz darauf ließ sie sich ihren Mantel bringen und stieg in das wartende Taxi.

Am Montagmorgen war um acht Uhr kein Kaffee gekocht, der Kopierer war nicht eingeschaltet und das Sekretariat war unbesetzt.

Auf seinem Schreibtisch fand er seinen Zettel aus dem Hafenrestaurant. Die Rückseite war mit Sabrinas zarter Handschrift versehen: Das Wort zum Freitag ist mir zu wenig. Die Woche hat sieben Tage.

Alle Rechte bei Birgit Puck

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