Wenn das Leben eine Wendung nimmt – Kurzgeschichte
Alles nach Plan
eine Geschichte von Birgit Puck
Konrad Kallendus hatte sein Leben fest im Griff. Alles verlief genau nach Plan. Wenn seine Kollegen ihm sagten: „Mensch, Konrad. Du hast es gut, bei dir klappt es immer wie am Schnürchen“, antwortete Konrad zufrieden: „Kein Wunder, ich führe eben sehr sorgfältig meinen Terminkalender.“
Im Gegensatz zu vielen anderen Menschen hielt er sich strikt an seinen Kalender.
So hatte er dort für jeden Mittwoch eingetragen: „20 Uhr, Treffen mit Anton in der Stadtkneipe.“ Deshalb war Konrad immer mittwochs um fünf Minuten vor acht in der Stadtkneipe und wartete auf Anton. Konrad kam nie zu spät. In seinem Kalender stand nämlich auch die genaue Abfahrtszeit des Busses, den er zur Stadtkneipe nehmen musste. Selbst wenn sein Freund Anton einmal ihren Kneipenabend absagte, saß Konrad am Mittwoch dann eben ohne Anton im Stammlokal. Schließlich hatte er diesen Termin fest eingeplant. Er konnte ihn also unmöglich ausfallen lassen – schon gar nicht verschieben, da für den Dienstagabend Fitnessstudio und für Donnerstagabend bereits Wäsche bügeln vorgemerkt war. Am Freitag sah er immer die Talkshows im Fernsehen, und samstags kochte er sich ein schönes Menü und trank eine Flasche Wein dazu.
In den Wintermonaten hatte er für sein Menü im Kalender einen schweren Rotwein aufgeschrieben, im Herbst einen leichteren Rotwein und für den Sommer und das Frühjahr einen Weißwein. Natürlich verlief nicht jede Woche gleich. Da waren die Geburtstage und andere Feiern, zu denen Konrad ab und zu ging, aber nur, wenn er den genauen Tag der Feier mindestens drei Monate vorher wusste.
Angefangen hatte seine detaillierte Lebensplanung, als sein Vater ihm zu seinem sechzehnten Geburtstag einen digitalen Terminkalender schenkte. Er überreichte ihm das Präsent mit den Worten: „Gut geplant ist halb erledigt.“ Dieser Satz schien ihm so einleuchtend, dass er ihn in roten Buchstaben gleich auf der ersten Seite seines neuen Kalenders eintrug. Von nun an notierte er dort alles: Klausurentermine, Geburtstage, den Schulstundenplan, wann morgens der Bus fuhr, und auch noch den Tag, an dem er endlich die Schule verlassen und ins wahre Leben hinauskonnte.
Ein Jahr vor Schulabschluss fragte er sich, welcher Beruf wohl der beste für ihn sei. Da sagte seine Mutter: „Am besten, du wirst Finanzbeamter. Da sind alle Termine für die Steuerzahlungen per Gesetz geplant. Du hast ein geregeltes Einkommen, hast sechs Wochen im Jahr Urlaub und wirst niemals arbeitslos. Außerdem verdienst du genug Geld, um eine Familie zu ernähren. Du willst doch eine Familie, mien Jung?“
Konrad nickte artig. Er hatte sich zuvor zwar noch nie Gedanken über eine Familie gemacht, aber in diesem Moment wurde in ihm das erste Mal der Wunsch nach einer Familie geweckt. Wenn seine Mutter meinte, der Beruf des Finanzbeamten entspräche genau seinen Neigungen, wollte er selbstverständlich Finanzbeamter werden und eine Familie haben. So notierte er in seinem Kalender: „Familie mit 28 Jahren“. Das war ein guter Termin, fand er. Bis dahin hatte er seine Ausbildung abgeschlossen und schon ein paar Jahre Berufserfahrung gesammelt.
Bis zu seinem 28. Geburtstag hatten sich die Ereignisse genau so eingestellt, wie er sie geplant hatte. Er hatte nach dem Abitur beim Finanzamt seine Ausbildung planmäßig abgeschlossen. Auf seinem Bausparkonto hatte sich eine größere Summe für ein Einfamilienhaus angehäuft. Doch da trat ein unerwartetes Problem auf. Der Traum einer eigenen Familie war nicht in Sicht, geschweige denn eine Frau, mit der er hätte diese gründen können. Bei all den Terminen hatte er vergessen, einen Abend in der Woche für die Brautschau vorzusehen.
Die Möglichkeiten, eine Frau kennenzulernen, waren eher begrenzt. Konrad verkehrte nur in seinem Stammlokal, in das sich selten Frauen verirrten. Bei Feiern traf er meist auf Paare, und falls er doch einmal mit einer Frau ins Gespräch kam und diese sogar Ambitionen zeigte, sich mit ihm zu verabreden, dann erlosch spätestens in dem Moment das Interesse, wenn Konrad auf das Display seines Kalenders starrte und ihr ein Date frühestens in viereinhalb Monaten auf einem Samstag zwischen 16:30 Uhr und 17:30 Uhr anbot.
„Die Frauen mögen mich nicht“, beklagte sich Konrad eines Abends bei seinem Freund Anton.
Anton hatte es gut, fand Konrad. Der hatte schon seit fünf Jahren eine Frau und seit zwei Jahren einen kleinen Buben.
„Konrad, das ist doch Quatsch“, sagte Anton, „du siehst gut aus, bist durch deinen regelmäßigen Sport gut durchtrainiert, hast Abitur und einen sicheren Beamtenposten. Eigentlich müssten die Frauen auf dich fliegen.“
„Tun sie aber nicht“, stellte Konrad traurig fest.
„Vielleicht liegt das einfach daran, dass du nichts spontan entscheidest“, meinte Anton.
Als er an diesem Abend im Bett lag, überlegte er, welche Frau, der er in den letzten Jahren begegnet war, wohl die richtige für eine Familie gewesen wäre. Die Irene vielleicht, die hätte sicherlich eine gute Mutter abgegeben, erst recht die warmherzige Sophie. Emma schien ihm auch die richtige Heiratskandidatin gewesen zu sein, sie hatte geheiratet – allerdings nicht ihn, sondern den Noah. Außerplanmäßig schlief er in jener Nacht erst weit nach Mitternacht ein. Fast hätte er am frühen Morgen den Wecker überhört, so müde war er noch.
Da er jedoch zur Sicherheit immer einen zweiten Wecker stellte, saß er auch an diesem Tag wie immer pünktlich in seinem Büro. Doch plötzlich trat etwas ein, womit niemand gerechnet hatte: Stromausfall. …
Nichts ging mehr – kein Computer, keine Lampe, kein Fahrstuhl. „Das ist höhere Gewalt!“, verkündete der Amtsleiter und gab allen frei.
Ein freier Tag, noch dazu an einem Donnerstag, war in Konrads Kalender nicht vorgesehen. Da stand nämlich der Eintrag: „Dienstschluss 16 Uhr, Bus 16:13 Uhr.“ Und nun war es erst 12:43 Uhr. Ratlos räumte er seinen Schreibtisch auf und verließ das Finanzamt. Was sollte er mit der ungeplanten freien Zeit tun?
Anton hat recht, dachte er, ich könnte mal Spontanität üben und in ein Café gehen. Es war schließlich ein schöner Sommertag.
Bei einem Eiscafé entdeckte er einen freien Tisch und bestellte sich ein Glas Sekt. Eigentlich trank er am Vormittag nie Alkohol, aber heute schien eben alles anders zu sein. Kaum hatte er das Glas geleert, trank er ein zweites und noch ein drittes und viertes. Bald saß er zwei Stunden dort und stellte fest, dass so ein Tag mit Stromausfall ein durchaus attraktiver Tag war.
Während er überlegte, ob er gehen oder das fünfte Glas Sekt bestellen sollte, trat ein junger Mann an seinen Tisch.
„Was dagegen, wenn ich mich dazusetze?“, fragte dieser und nahm Platz, ohne Konrads Antwort abzuwarten. Konrads leicht angeheiterter Zustand führte dazu, mit seinem Tischnachbarn zu plaudern. Nach kurzer Zeit stellten die beiden fest, dass sie das gleiche Fitnessstudio besuchten – nur an unterschiedlichen Tagen. Man war gleich per du. Der Mann hieß Alex.
„Wir müssen unbedingt mal zusammen ’ne Runde Squash spielen. Wie wäre es diesen Donnerstagabend um 19 Uhr?“, fragte Alex.
„Gern“, stimmte Konrad zu, obwohl er genau wusste, dass donnerstags immer sein Bügeltag war. Er überlegte kurz und meinte: „Moment, ich schau eben in meinem Terminkalender, ob es geht.“
Konrad öffnete die Seitentasche seines Rucksacks. Zielsicher griff er nach seinem digitalen Kalender. Er war nicht da! Panik überfiel ihn. Nervös leerte er den kompletten Inhalt des Rucksacks. „Mein Kalender ist weg!“, schrie er fast hysterisch. „Vorhin hatte ich ihn noch. Man hat ihn mir geklaut!“
„Portemonnaie und Papiere?“, erkundigte sich Alex.
Konrad hielt sie hoch. „Sind da!“
Alex lachte. „Manche Diebe sind echt blöd. Wahrscheinlich dachten sie, dein Kalender sei ein wertvolles Tablet.“
Konrad spürte, wie ihm fast Tränen in die Augen stiegen. Terminkalender, futsch auf Nimmerwiedersehen!
Konrad merkte, dass eine Träne über seine Wange kullerte. Im gleichen Moment spürte er die männliche Hand, die seine tröstend ergriff. Konrad holte tief Luft und sagte mit möglichst fester Stimme:
„Egal, stand sowieso nichts Wichtiges drin!“
„Kopf hoch. Da kaufst du dir einfach ein neues Tablet. Deins hatte bestimmt schon einige Jahre auf dem Buckel.“ Konrad nickte.
„Es bleibt also bei unserer Squash-Partie am Donnerstag?“, fragte Alex. Konrad nickte erneut.
Der Stromausfall lag nun vier Wochen zurück. „Wähle die Nummer meiner Eltern“, gab er seinem neuen Handy als Sprachbefehl.
„Kallendus“, meldete sich seine Mutter am anderen Ende.
„Hier spricht euer Sohn“, erwiderte Konrad.
„Schön. Du lebst noch“, entgegnete seine Mutter vorwurfsvoll. „Tagelang nichts von dir gehört.“
„Tut mir leid, hab’ ich vergessen!“, entschuldigte sich Konrad.
„Es steht doch in deinem Kalender!“, sagte Mutter.
„Den hat man mir neulich geklaut“, erklärte Konrad.
„Ach wie blöd“, seufzte seine Mutter. „Hast du Neuigkeiten?“
„Ja.“
„Und was? Willst du heiraten?“
„Nicht direkt. Ich werde mit jemandem zusammenziehen.“
„Oh, wie schön!“, freute sich die Mutter. „Geht dein Familientraum endlich in Erfüllung! Wie heißt sie denn?“
„Wie heißt er denn?“, korrigierte Konrad.
Seine Mutter fragte leicht irritiert: „Wie er?“
Konrad holte tief Luft. „Mutter, er heißt Alex, und ich bin schwul.“
„Aber Kind! Als Beamter! Es war doch alles geplant. Das Eigenheim, die Kinder!“
„Ich hab’ eben falsch geplant. Gerade noch rechtzeitig habe ich es gemerkt!“
„Was soll ich nur Papa sagen?“, ihre Stimme klang jetzt wahrhaft verzweifelt.
„Sag ihm, der Plan wurde etwas geändert!“, antwortete Konrad energisch.
„Wieso nur etwas?“
„Die Liebe ist eben schwer planbar. Nur das Finanzielle, das läuft wie geplant. Alex und ich kaufen uns eine Wohnung. Vielleicht werden wir auch eines Tages heiraten.“
„Gut, mien Jung, eine Wohnung ist eine gute Altersvorsorge. Tja, dann ist das wohl so. ich sag’s dem Papa, der wird sich dran gewöhnen müssen. Eins verspreche ich dir: Wir schenken dir ein richtig schönes neues Tablet, mit dem modernsten Kalender, den es gibt.“
„Ich glaub’, einen Kalender brauche ich nicht.“
„Du hast recht, mien Jung. Einer ist zu wenig. Wir kaufen zwei, einen für dich und einen für deinen Alex“, sagte sie und beendete das Gespräch.
Konrad zuckte ratlos die Schultern. Er legte das Telefon zur Seite und warf einen Blick auf sein Handgelenk. An der Stelle, wo er stets seine Uhr getragen hatte, war ein weißer Fleck. Manchmal war er jetzt erst nach 8 Uhr im Büro.